Der folgende Artikel erscheint auch im Focusing-Journal 42.

Andrea Zumbrägel

Krankheit als Potential –
mit Focusing Heilung ermöglichen, heilen lassen

Wer schon einmal krank war, hat erfahren, dass Kranksein aus der Bahn wirft, schmerzt, einengt, etwas wegnimmt, traurig und ohnmächtig macht, uns hilflos, deprimiert bis hin zu hoffnungslos fühlen oder gar verzweifeln lässt – je nach dem, wie schwer sie ist, wie lang sie dauert und wie die schulmedizinischen Heilungsaussichten sind. Kürzlich verstarb ein guter Freund mit 44 Jahren nach langem Leiden an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er hinterlässt drei kleine Kinder und eine wunderbare Frau mit einem großen Hof. Seine Krankheit und sein Tod haben mich erschüttert und sprachlos gemacht. Wo liegt da ein Potenzial? Angesichts der allgegenwärtigen Realität von Krankheit, Leiden und Tod klingt das zynisch und weltfremd.

Ich lebe seit fünf Jahren mit der Diagnose „Multiple Sklerose im chronisch-progredienten Stadium“, eine laut Medizinern unheilbar voranschreitende Krankheit, die die schützenden Nervenhüllen zerstört und über schmerzhafte Muskelspastiken zur vollständigen Lähmung von Körper und Geist führen kann. Als Zen-Übende mit jüdischen Wurzeln stehe ich in einer langen Tradition von Fragenden und Forschenden: „Es ist nun mal genau so, wie es ist. Und gleichzeitig ist es „nicht so“… Was ist da noch? Was steht dahinter?“ Meine Erfahrungen mit diesen Fragen auf dem Hintergrund meiner Focusing-Ausbildung und -praxis möchte ich gerne, wenn Sie mögen, hier und jetzt mit Ihnen teilen.

In Kontakt mit dem Körper kommen

Wenn Sie das Wort „Krankheit“ hören, was geschieht da in Ihrem Körper? –

Bei mir schmerzt die rechte Hüfte, die durch die Lähmung der linken völlig überstrapaziert ist. Ich begrüße den Schmerz, nehme einen sanften Atem mit hinein und bleibe mit meiner Aufmerksamkeit dabei. Welche Qualität hat der Schmerz jetzt? Was geschieht, wenn ich ihn wahrnehme, ihn würdige? Manchmal tut das allein schon gut, manchmal verändert sich etwas an der Körperstelle, manchmal an der Qualität meiner Aufmerksamkeit: ich spüre Widerstand gegen den Schmerz, Ablehnung – oder liebevolles Mitgefühl. Mein Herz öffnet sich für meine schmerzende Körperstelle, für meinen Körper. Endlich.

Krankheit hat immer einen konkreten Ort im Körper und eine konkrete Zeit. Sie zwingt mich dazu, sie und damit meinen Körper genau zu diesem Zeitpunkt wahrzunehmen. In unserer westlichen Gesellschaft ist das nicht vorgesehen. Alles, auch unser Körper, wird unter dem Maßstab der Leistung, des Funktionierens, der Effektivität gesehen. Den Körper ohne diesen Maßstab, da nicht mehr funktionsfähig, wahrzunehmen, ist uns fremd, ungewohnt, löst heftige Ablehnung und Leiden aus. Wir bewohnen unseren Körper nur noch selten. Meistens wohnen wir allein in unserem Kopf, unseren Plänen, Vorstellungen, Gedanken und Konzepten. Krankheit zwingt uns, innezuhalten und anzuerkennen, dass unser menschliches Leben körperbasiert ist, von unserem Körper abhängt, mit ihm lebt und vergeht, unweigerlich stirbt. Ich werde mir bewusst, dass ich dieser Körper bin und nur diesen Körper als Verbindung zur Welt, als mein Leben habe. In diesem Bewusstwerden liegt für mich das erste, grundlegende Potential.

Freiraum schaffen

Aber ich bin nicht diese Krankheit. Ich habe zur Zeit diese Erkrankung, diese Symptome – und bin doch so viel mehr. Jon Kabat-Zinn sagte einmal: „Solange ein Mensch atmet, ist sehr viel mehr in Ordnung als kaputt.“ Das Glas ist mehr als halb voll. Die Schmerzen und Beeinträchtigungen sind jedoch oft so überwältigend, dass ich das nicht mehr wahrnehme, dass ich mich ganz mit ihnen identifiziere. Durch die Focusing-Praxis ist es mir möglich, mich zu des-identifizieren, die Körper-Wahrnehmung in einem guten Abstand herauszustellen, durchzuatmen und innerlich wieder Raum zu gewinnen, weit zu werden. Die Symptome verschwinden dadurch nicht, aber sie werden relativiert, bekommen den ihnen angemessenen Platz. Weiterleben ist möglich. Trotzdem. Und mit all dem. Gleichzeitig. Mein Leben weitet sich wieder und mir wird bewusst, was da noch alles ist, welche – guten – Körpererfahrungen da noch sind, was mir noch alles zur Verfügung steht. Dankbarkeit entsteht wie von selbst. Ein lebendiges Kribbeln in meinem Bauchraum. Da ist ein guter, sicherer Ort, zu dem ich jederzeit zurückkehren kann. Wann war mir zum letzten Mal so spürbar bewusst, wie dankbar ich für mein Leben bin, wie sehr ich mich darüber freue, da zu sein – trotz alledem? Dankbarkeit und Freude sind paradoxerweise potentielle Energien, die aus meiner Erfahrung von Kranksein beim Freiraum-Schaffen entstehen können.

Da ist noch so viel Leben – gleichzeitig mit meinen schmerzhaften Symptomen, gleich gültig. Dies zu erfahren ist für mich ein großes Potential an Lebenskraft, an Lebensfreude.

Im Freiraum schaffen findet ein Loslassen meiner Identifizierung mit meinen Beschwerden statt. Dieses Loslassen, Sein-Lassen zu üben, ist für mich ein weiterer heilsamer Schritt. Der Zen-Lehrer Bernie Glassman sagte einmal: „Auch wenn es viele unterschiedliche Wege der Praxis gibt, treffen sich alle am selben Punkt: Wir müssen vollständig loslassen!“ Schwere Krankheit zwingt uns dazu, loszulassen. Wenn wir fast keine andere Wahl mehr haben, öffnet uns das für die Erfahrung, was geschieht, wenn wir vollständig loslassen. Krankheit birgt das Potential, uns zur Erfahrung von Loslassen und Sein-Lassen zu führen. Da ist dann ein tiefer Frieden möglich, der alle Worte übersteigt.

Felt sense – gespürte Bedeutung im Dialog mit dem Körper

Wenn ich nun einen Felt sense zu dem Ganzen meiner Krankheit entstehen lasse – alles, was jetzt damit ist, was damit war, was ich befürchte/erhoffe, was ich nicht weiß und vielleicht auch nie wissen werde (Renn 2017, S. 71) – welches vage Neue, Ahnungsvolle, noch nicht gewusste und noch nicht in Worte zu fassende entsteht da? Ich frage mich das in Richtung Brust-, Herz- und Bauchraum, und ich lasse mir und dem „Etwas“ Zeit… Mir kommt ein Bild von verzweifelten, aufgescheuchten TH1-Immunzellen, die mich und meinen Organismus vor Schaden bewahren wollen. Denn das ist ihre Aufgabe. Sie überwinden in Panik die beschädigte Blut-Hirn-Schranke und stürzen sich auf das, was sie in ihrer Hektik und Eile als lebensbedrohlichen Feind identifizieren – die schützenden Myelin-Schichten um meine Rückenmarksnerven herum. Sie ähneln in fataler Weise den bösen Eppstein-Barr-Viren (EBV), die im Rahmen einer Pfeifferschen-Drüsenfieber-Infektion meinen Körper heimgesucht hatten. Damals waren die Helferzellen erfolgreich – ich bin von der Erkrankung genesen. Doch jetzt sind sie gerade dabei, einen ernsten Fehler zu begehen – ohne Schutzschicht sterben meine Nerven ab, werde ich weiter gelähmt… „Stopp!“ schreie ich auf, „Halt! Nein!“ Ich hebe abwehrend meine Hände, die Immunzellen sind irritiert. Ich stelle mich schützend vor meine kostbaren Nervenzellen und entscheide mich, sie kompromisslos zu verteidigen. Die Immunzellen murren, einige versuchen, an mir vorbei zu kommen. Fast schon anrührend, wie ernst sie ihre Aufgabe nehmen! Mitgefühl und Verständnis für ihren Einsatz kommen in mir auf. Eindringlich erkläre ich ihnen die Lage, ihren Irrtum. Dabei lobe ich sie für ihren heldenhaften Einsatz für die Verteidigung meines Organismus, mache aber gleichzeitig unmissverständlich klar, dass an der Blut-Hirn-Schranke Schluss ist. Der Krieg gegen die EBV ist vorbei… Der Krieg ist vorbei! – Gerade beim Ablauf dieser inneren Szene hat sich etwas in meinem Erleben verändert – ein Felt shift.

Felt shift – Wegweiser zu körperlich-seelischem Gleichgewicht

Ich fühle mich stark und eigen-mächtig, meine Nervenzellen und damit meine Gesundheit zu schützen und zu erhalten. Ein magischer Moment der Veränderung! (Renn 2017) Prof. Dr. med. George Jelinek, der selbst seit 1999 mit der Diagnose MS lebt, schreibt dazu: „Ein Ziel (…) ist es, der Kapitän des eigenen Gesundheitsschiffes zu werden.“ (Jelinek, 2018, S. 175) Er fordert dazu auf, die Geist-Körper-Verbindung (wie sie im Focusing erforscht wird) als wesentliche Energiequelle für den Heilungsprozess zu nutzen: „Sie verstehen, was für ein Potential, in den Verlauf einer Krankheit einzugreifen, wir in uns bergen, wenn wir uns nur dazu entscheiden und dazu ermutigt werden, dieses Potential zu nutzen. (…) Die Krankheit ist ein Teil von uns – es ergibt keinen Sinn, gegen sich selbst zu kämpfen. Dadurch erhält die Krankheit lediglich mehr Macht.“ (ebd., S. 181)

In der Erfahrung meines Felt Sense und des Felt Shift habe ich genau das als „carrying forward“, als weiterführend erlebt: Anerkennen, was ist (nämlich das sinnvolle Handeln meines Körpersystems, das damals angemessen auf die Bedrohungssituation reagiert hat) und einen inneren Schritt hin zu einer Veränderung dessen tun, was heute meine Gesundheit bedroht – alles zu tun, um die übereifrigen TH1-Immunzellen zu stoppen.

Es geht um Empowerment – Selbst-Ermächtigung – aufgrund authentischer Körpererfahrungen zum Thema „eigene Erkrankung“. Krankheit verstehe ich als „aus dem – seelischen und körperlichen – Gleichgewicht gekommen sein“. Ein weiteres Potential von Krankheit besteht somit darin, sich des eigenen körperlichen und seelischen Ungleichgewichts bewusst zu werden und in ein neues Gleichgewicht zu kommen. Mit Jelineks Worten: „Ich lebte nach vielen Jahren der Unausgeglichenheit endlich auf eine gesunde, ausgeglichene Weise.“ (ebd. S. 184)

Den nächsten (kleinen) Schritt entstehen lassen

Alles verändert sich – natürlich unser Körper und genauso chronische Krankheiten, auch wenn der Begriff „chronisch“ genau das Gegenteil suggeriert. Im Zen heißt es: „Alles, was Form angenommen hat, wird diese Form auch wieder verlieren.“ Die Konsequenz daraus ist, die Formen zu würdigen und zu genießen, solange sie bestehen. Und nicht unser Herz daran zu hängen, denn das Vergehen ist so sicher wie… 100 % eben. Wenn jede Form veränderlich ist, dann auch jede Form von Erkrankung – die Veränderung von Krankheiten durch den Tod, die absolut endgültige letzte Veränderung eingeschlossen. Sterben gehört zum Leben, ermöglicht neues Leben. Heilung verstehe ich als Veränderungsprozess, als eine Art von sterben in ein neues Gleichgewicht hinein. Etwas Altes, Krankes lasse ich zurück zugunsten von etwas Neuem, Gesunden. „Geheilt“ bin ich nicht mehr die Alte. Ich habe etwas zurückgelassen. Ich lasse mich vorantragen vom „carrying forward“, der alles verwandelnden, allem immanenten Lebensenergie. Sie nimmt Form und Gestalt an im nächsten (kleinen) Schritt, der sich aus dem Felt Shift herauskristallisiert.

Im obigen Beispiel meines Focusing-Prozesses mit meiner Erkrankung ist der nächste Schritt die Entscheidung, in meinem Lebenswandel alles zu lassen, was entzündungsfördernd (TH1-Immunzellen aktivierend) ist und alles zu tun, was die Entzündungen hemmt (TH2-Immunzellen aktiviert): vegetarisch essen, täglich Leinöl und regelmäßig Fisch/Meeresfrüchte zu mir nehmen, genügend Vitamin D3 einnehmen, mich jeden Tag 30 Minuten in der frischen Luft und in der Sonne bewegen, bei Regen im Fitness-Studio, meditieren und mit Focusing meine Geist-Körper-Verbindung erforschen, meine Arbeit verändern und auch alles andere, was mich stresst. Entschieden alles. Sonst: Lähmung und Stillstand. Dabei helfen mir Beispiele von Menschen, die all das konsequent getan haben und nachweislich von MS genesen sind (vgl. Jelinek/Law, 2013). Wir sind nicht allein!

Refilling – innere Verletzungen heilen

„Bewusstsein wird Biologie“ beschreibt Caroline Myss den Zusammenhang zwischen unserer Lebensgeschichte und unserer aktuellen körperlichen Verfassung (Myss, 2002). Autoren wie Lissa Rankin und George Jelinek weisen eindringlich darauf hin, dass ernste körperliche Erkrankungen (wie z.B. MS und Krebs) nur erfolgreich behandelt werden können, wenn auch ihr psychischer Anteil angeschaut und geheilt wird (Jelinek, S. 171 und Rankin, 2014, S. 111). Focusing kennt den vorstrukturierten Prozessablauf des „refilling“. Die Kernfrage lautet: „Wenn damals alles so gewesen wäre, wie es hätte sein sollen – wie würde sich das anfühlen?“ (vgl. Renn, S. 215) Der Körper weiß, wie es hätte sein sollen. Im Falle meiner MS-Symptome war der entscheidende Hinweis meine Angst, verlassen zu werden. Als kleines Mädchen niemanden mehr zu haben, der nicht nur körperlich, sondern auch emotional anwesend war. Angst bewirkt unglaubliche Verhaltensstrategien. Und Angst – lähmt. Der erste Schritt aus der Angst heraus ist Hoffnung. Hoffnung auf geborgen sein, gehalten werden. Das Gegenteil von Angst ist Vertrauen – vertrauen auf die eigene Stärke, die eigene Mächtigkeit, die Eigenmächtigkeit, etwas gegen die Angst, gegen die Lähmung tun zu können…

Nach einer MS-Diagnose kommt keine Hoffnung von Seiten der Schulmedizin – sie erklärt die Krankheit schlicht für unheilbar. Hoffnung entsteht allein durch Menschen, die die Krankheit überwunden haben und die uns auf unserem schwierigen Weg hindurch, hin zur Heilung, begleiten. Und Vertrauen kann dann im Dialog mit unserem Körper wachsen, der uns die nächsten Schritte zur Heilung, zu einem neuen Gleichgewicht zwischen Körper und Seele zeigt, wenn wir ihn danach fragen. Wie das gelingen kann, hat Susanne Kersig wunderbar nachvollziehbar in ihrem Buch „Im Dialog mit dem Körper“ (Kersig, 2014) ausführlich beschrieben. – Eine ernste Erkrankung kann dazu führen, seelische Verletzungen zu entdecken und zu heilen, die sonst unbeachtet unter der Oberfläche des Alltags weiter unser Leben behindert hätten.

Krankheit als Potential

All dies ist nur möglich, wenn wir voll und ganz annehmen und akzeptieren, was jetzt ist. Wenn wir den Zustand unseres Körpers wahrnehmen und ernstnehmen. Das ist zuerst einmal eine riesige Herausforderung, eine heftige Zumutung. Punkt.

Doch „Was sein darf, kann sich verändern!“, so eine wichtige Erkenntnis aus der Gestalttherapie. Manchmal gelingt dieses „was ist, darf sein“ überhaupt nur, wenn man eine zuverlässige, vertrauenswürdige, erfahrene, liebevoll-annehmende Begleitung hat. Wenn Sie von schwerer Krankheit betroffen sind, suchen Sie sich Unterstützung! Fragen Sie nach einer Focusing-Begleitung in Ihrer Nähe! Auch Sie sind nicht allein. (www.daf-focusing.de)

Krank oder gesund – nutzen Sie mit Fosucing Ihren Körper und ihr Leben als Potential!

Denn Veränderung ist sicher – und Heilung ist möglich!